Ein Geschäftsfreund, dessen Meinung ich schätze, sagte mir neulich nach einem Vortrag: “Thomas, Du hackst immer auf den Möbelverkäufern rum und machst Dich über sie lustig.” Ich dachte: “Autsch! So will ich nicht wahrgenommen werden.” Ich mag Menschen nämlich.
Besonders Verkäufer, denn ich bin selber einer. Ich sehe mich gerne als ein Beobachter und Liebhaber menschlichen Verhaltens. Die Menschen sind immer in Ordnung, nur ihr Verhalten ist manchmal nicht zielführend und darüber mache ich mich lustig. Die Alternative ist, sich darüber aufzuregen, aber das macht mir keinen Spaß.
Augen-Tinnitus kann jeden befallen! Besonders gefährdet sind Führungskräfte und Unternehmer
Da ich also mich weiterhin über Verhalten lustig machen will, sind jetzt erstmal die Führungskräfte und Unternehmer im Möbelhandel dran. Viele von Ihnen leiden an einer grausamen Krankheit: Augen-Tinnitus. Kennen Sie nicht? Aber den Ohren-Tinnitus kennen Sie, oder? Bei dieser Krankheit hören die Befallenen überall und permanent ein Pfeifen.
Sie können sich vorstellen, wie seelisch belastend das ist.
Manager, die von Augen-Tinnitus befallen sind, sehen überall und permanent Pfeifen.
Das zeigt sich in Aussprüchen, wie:
- “Hier arbeiten doch nur Idioten!” (Welcher Idiot hat die eigentlich eingestellt oder lässt sie zumindest hier arbeiten?) oder
- “Die Verkäufer machen einfach nicht, was ich ihnen sage!” (Wessen Verantwortung ist es eigentlich, Regeln durchzusetzen?).
Da wir glauben, was wir sehen, ist Augen-Tinnitus eine schreckliche Krankheit, die die Weltsicht der befallenen Personen sehr schnell ins Negative abkippen lässt.
Denn wenn die Führungskraft oder der Unternehmer (diese sind die Haupt-Risikogruppen) einmal infiziert sind, schlägt der Effekt der sich selbsterfüllenden Prophezeiung zu. Die Befallenen sehen nur noch das, was sie erwarten, d.h. idiotisches Verhalten. Alles, was nicht in das Augen-Tinnitus-Schema passt, wird kurzerhand ausgeblendet. Nämlich das zielgerichtete Verhalten, das dazu führt, dass das Unternehmen Möbel verkauft, Umsatz macht und in über 90 % der Fälle zufriedene Kunden produziert.
Eine Schnelldiagnose auf Augen-Tinnitus kann der interessierte Laie folgendermaßen durchführen. Fragen Sie einfach eine(n) Führungskraft/Unternehmer: “Und, was haben Ihre Mitarbeiter letzten Monat so geleistet?” Bei infizierten Personen folgt eine Aufzählung der gruseligsten Reklas, Geschichten von an der Hauptinfo Bildzeitung lesenden Verkäufern, geklauten Klopapierrollen etc.
Oft reicht auch schon ein fragend ausgesprochenes “Und?” (Stimme dabei heben), um eine Litanei über menschliche Unzulänglichkeit zu bekommen. So schnell kann die Schnelldiagnose gehen!
Die gute Nachricht ist, es gibt ein Gegenmittel, das man sich auch selber verabreichen kann, wenn der Krankheitszustand noch nicht so fortgeschritten ist, dass er zielorientiertes Handeln unmöglich macht. Wann immer Sie Verhalten beobachten, das Sie völlig unverständlich finden und Sie sich daher darüber ärgern, stellen Sie sich einfach folgende Frage:
“Was kann einen intelligenten, rationalen, wohlmeinenden Menschen dazu bringen, so zu handeln?”
Wenn Sie denken: “Der kennt meine Mitarbeiter nicht, die sind gerade das Gegenteil!”, halten Sie kurz inne! Das Gegenteil von “intelligenten, rationalen und wohlmeinenden Menschen” sind dumme, bösartige Psychopathen. Und solche Menschen beschäftigen Sie doch wohl nicht, oder?
Wenn Sie nicht sofort auf eine Antwort kommen, hilft die Frage: “In welcher Situation hat der Mensch, den ich am besten verstehe und vorbehaltlos akzeptiere (Sie selber), sich schon einmal so oder ähnlich verhalten?” In dem Moment, in dem ich bemerke, dass ich manchmal auch so bin, ist der emotionale Druck völlig raus und wir können uns, anstatt sinnlos an der Person rumzunörgeln, mit unserem eigentlichen Job beschäftigen, nämlich das ungünstige Verhalten zu verändern.
Wenn Ihre Selbstkritikfähigkeit dafür nicht reicht, helfen folgende Fragen:
- Liegt das Verhaltensproblem daran, dass der Mensch nicht kann (Fähigkeiten, Kenntnisse, Mut, Selbstbewusstsein) oder nicht will (Motivation)?
- Liegt der Grund dafür in der Person selber, bei anderen Menschen (Kollegen, Gruppenzwang) oder in seiner Umgebung (Anreizstruktur, Arbeitsmittel)?
Die Annahme lautet leider zu oft: “Der macht das so, weil er nicht will und das liegt daran, dass er ein schlechter/fauler/unmotivierter Mensch ist.” Damit haben Sie das Problem mit der Person verknüpft und das ist nicht günstig. Denn Sie können menschliche Eigenschaften, ihre Werte und Motivationsstrukturen kaum beeinflussen. Ändern können wir nur das Verhalten und das geht am einfachsten, wenn wir über Prozesse das Verhalten anderer Menschen oder die Vermittlung von zusätzlichen Fähigkeiten steuern können.
Ein kleines Beispiel dafür: Seit Jahren höre ich Unternehmer darüber meckern, dass ihre Auslieferungstischler kleine Rekla-Reparaturen nicht sofort vor Ort machen. Ebenfalls seit Jahren erzählen mir Auslieferungsteams, dass sie keinen kompletten König-Koffer und keinen gut funktionierenden Akku-Schrauber auf dem Auto haben.
Nur zusammengebracht werden diese beiden Informationen leider selten. Warum nicht? Augen-Tinnitus!
Gibt es auch eine Schutzimpfung gegen Augen-Tinnitus, so eine Art Immunisierung? Ja, und die tut noch nicht mal weh! Der Funktionsmechanismus ist einfach. Wir können Menschen nicht für Pfeifen halten, die wir gut kennen und verstehen. Wenn z.B. mein Co-Trainer und Geschäftspartner seltsame Dinge tut, nehme ich sofort an, dass er dafür hervorragende Gründe gehabt haben wird und frage ihn bei Gelegenheit danach.
Wie können Sie die Schutzimpfung selber verpassen? Wenn Sie Mitarbeitern oder anderen Menschen, die Sie tendenziell ärgern (Partner, Kinder, Kollege) begegnen praktizieren Sie die Formel AAA. Nein, das steht nicht für “ankommen, aufregen, anschreien”, wie es viele Führungskräfte praktizieren. Besser ist: “anhalten – anschauen – anhören”.
Wie sieht das konkret aus?
- Anhalten: Hören Sie auf, das zu tun, was sie vorher getan haben und daran zu denken, woran Sie vorher gedacht haben. Konzentrieren Sie sich auf die Person.
- Anschauen: Zwingen Sie sich, die Augenfarbe des anderen festzustellen (auch wenn Sie die bereits wissen). Damit stellen Sie sicher, dass Sie einen Blickkontakt aufgebaut haben. Jetzt beantworten Sie sich innerlich z.B. folgende Fragen: “Wirkt mein Gegenüber froh, ausgeglichen oder gedrückt und gestresst? Wie sieht er aus? Wie ist er angezogen? Wie fühlt er sich vermutlich und wie würde ich mich fühlen, wenn ich in seiner Lage wäre?”
- Anhören: Oberste Regel ist hier: Den Gesprächspartner immer ausreden zu lassen. Überprüfen Sie mal selber, wie oft Sie Mitarbeitern ins Wort fallen. Wenn Sie so weit gekommen sind, fällt es relativ leicht, intelligente, einfühlsame Fragen zu stellen, die zu Verständnis für den Anderen führen.
Wenn Sie das konsequent durchziehen, sind Sie für den Rest Ihres Lebens gegen Augen-Tinnitus immun, und außerdem eine hervorragende Führungskraft.
Wenn Sie aber sagen: “Wer hat denn für sowas Zeit!?” bedenken Sie: Es ist Ihre Gesundheit.
Ihr Thomas Witt